Das akustische Manifest

Vorrede

Es ist Zeit abzurechnen.
Und der Ort der Abrechnung ist hier.
Hier, auf dem Titelblatt von "Le Figaro", wo vor 100 Jahren, am 20. Februar 1909, die Anbetung des Lärms, die Aufforderung zur Misshandlung unserer Körper, die Anleitung zur ewig währenden Folter durch Schall ihren Ausgang nahmen. Hier, wo sich Filippo Tommaso Marinetti mit dem Futuristischen Manifest über sich selbst erhob und in unglaublicher Hybris die Geißeln der grenzenlosen Maschinisierung, Motorisierung und Mobilität und mit ihr die Geißel der grenzenlosen Schallentwicklung und mit ihr den kollektiven Missbrauch unserer Körper verherrlichte und damit alles befeuerte, was unseren Vorfahren Unheil und Tod brachte und uns und unsere Kinder bis heute quält:
Lärm!
Lärm!
Lärm!

Der Wilde Westen des Hörens

Schall ist die neue Waffe der Macht. Schall ist zu Strahlung geworden. Das Volk wird mit Schall bestrahlt und apathisch und blöd gemacht – an jedem Ort, zu jeder Zeit und unter allen Umständen. Längst werden Produkte akustisch manipuliert und Werbung akustisch inszeniert. In Supermärkten, Geschäften, Einkaufszentren, Restaurants, Warteräumen, Telefonwarteschleifen, ja Wohnungen, Stiegenhäusern, sogar Toiletten sind täglich Millionen Menschen Opfer toxischer Schallstrahlung, die durch ihre Körper kriecht.
Verkehrsschneisen schleudern als Strahlungskanonen ihren krankmachenden Lärm auf Junge und Alte, sie schleudern ihn auf Frauen und Männer, ja selbst auf Babys und Greise!
Niemand entrinnt dem Bombardement. Automobile, Stahlrosse und Aeroplane machen uns mit Strahlenmilitarismus gefühllos, leblos und tot. Das ist die Schönheit der Schnelligkeit! Das ist der Krieg, den Marinetti pries!
Die Mächtigen vergewaltigen die Machtlosen.
Willkommen im Wilden Westen des Hörens!

Der akustische Raum

Alles, was wir hören, ist der akustische Raum. Hier konkretisieren sich unsere Lebensbedingungen unvermittelt, hier inkarnieren sie geradezu. Der akustische Raum wird durch neue Technologien gerade revolutioniert, er wird regelrecht ent-faltet zu etwas bisher Unvorstellbarem. So atemberaubend schnell bläst er sich auf, dass an Normen über unser Zusammenleben in diesem explodierenden Raum noch nicht einmal gedacht wurde. Ein politisches und gesellschaftliches Vakuum ensteht. Dieses Vakuum ist das El Dorado der akustischen Goldgräber. Sie besetzen mit neuen Technologien neue Territorien und begründen Eigentums- und Verwertungsrechte. Sie tun dies frei von Regeln. Nach dem Faustrecht.
Deshalb fluten Schallbestrahlungen alle Lebensbereiche. Mobilitätslawinen und Beschallungslawinen treiben Strahlenwellen vor sich her, die das Volk aufreiben.
Unser Körper ein Schlachtfeld.

Doch wir fühlen und spüren nichts.
Warum?
Können Sie Ihre Ohren zumachen?

Lob des Hörens

Ohne Hören sind wir nichts. Was wir sind, sind wir durch das Ohr: Personen. So wie das lateinische Wort es sagt: Durch-Klingende. Unsere Existenz ist Klang und unser Tun erzeugt Klang, nicht Licht. Töne, nicht Bilder. Aufgehoben in der ewigen Schwingung des Raumes, durchflutet vom Lebenspuls unserer selbst, eingebettet in das Kontinuum der Zeit. Vom fünfzigsten Tage nach der Befruchtung bis nach unserem letzten Atemzug hören wir. Vom fünfzigsten Tage nach der Befruchtung bis nach unserem letzten Atemzug klingen wir.
Vierundzwanzig Stunden am Tag.
Das Gehör warnt uns vor Gefahren. Bis heute funktioniert die schnelle Datenleitung in die ältesten Teile unseres Hirnes, die uns zu Flucht oder Abwehr treiben. Deshalb wissen wir nicht, dass wir hören. Wir hören. Wir wissen auch nicht, was wir hören. Wir hören, um zu überleben.
Ununterbrochen.

Trinität des Ohres

Und genauso ununterbrochen verankert uns das Ohr in der Welt. Gleichgewicht, Orientierung und Gehör vereinen sich zu einer Trinität der Wahrnehmung. Hier liegt die Basis für Bewegung und Raum. Nur das Ohr beschert uns dreidimensionale Wahrnehmung, und keine Vor-Stellung der Welt wie sie das Auge her-stellt.

Triumph der Schallbestrahlung

Sollen wir jedem, der sein zerstörerisches Werk in Gang setzen will, unkontrolliert, entschädigungslos, ja ohne unser Wissen den Zugang in unser Innerstes durch unsere Ohren hindurch gewähren? Ihr habt keine Körper, ihr seid Körper, rufen wir Euch mit Wilhelm Reich zu! Protofaschismus, Kommunismus, Totalitarismus, Industrialismus, Autoritarismus, Kapitalismus, Monetarismus, Neoliberalismus, Globalismus verfeuern unsere Leiber, um sich aus dem Dreck zu erheben, den sie anrichten. Heute triumphiert und herrscht unbegrenzte Schallbestrahlung über die Sensibilität der Menschen, der tönende Kapitalismus als horror spatii sono vacui. Aber unsere Hände sind frei und rein genug, um von vorn anzufangen.

Manifest

1. – Die Architektur ist zu einer tauben Disziplin verkommen, zu einer Kulissenschieberei. Sie baut Hörsäle, in denen man nicht hören kann, Krankenhäuser, die krank machen, Wohnungen, in denen wir uns nicht verstehen können, Schulen, die unsere Kinder hyperaktiv, aggressiv und schwerhörig machen. Ihre Bauten richten sich wie Waffen gegen uns selbst. Sie bündeln, fokussieren, verstärken, ja erzeugen die Schallstrahlen, die uns quälen. Neues Bauen heißt Hören!

2. – Die Verkehrsplanung ist Dienerin des Fetischs Mobilität. Auf ihrem Altar wird die Freiheit des Menschen geopfert. Lärmcanyons zerschneiden das Land und schützen mit Lärmschutzwänden die Verursacher des Lärms – den Verkehr. Lärmschutzfenster machen unsere Häuser zu Gefängnissen. Befreit den Menschen aus der Sklaverei kapitalistischer Bewegungsideologie!

3. – Das Unrecht hat sich in den Schatten gesellschaftlicher Aufmerksamkeit verkrochen. Die Lawine globalisierter Schallstrahlung reißt die mit, die sich nicht in ruhigen und damit teuren Wohngebieten verschanzen können. Die von Bodenschätzen leergesaugten Erdhohlräume nähren als Resonanzkörper den vibrierenden Kapitalismus immer aufs Neue. Wer im Lärm lebt, ist arm. Wer arm ist, lebt im Lärm. Eine neue Raumplanung ist akustische Raumplanung!

4. – Parallele Wände, uniforme Materialien und Oberflächen erhöhen die Belastung des Gehörs und verringern Sprachverständlichkeit und Hörsamkeit. Kinder quälen sich in den Schulen, niedergedrückt von der Gewalttätigkeit der Klassenräume. Kinder wollen hören lernen, um sich und die Welt zu entdecken. Gründet eine neue Schule!

5. – Überbordende und dauernde Schallstrahlung durch Lärm, Hintergrundmusik, Selbstbeschallung erhöht die Belastung des Sinnesapparates und erschwert die Integration akustischer und visueller Eindrücke. Stress, Tinnitus, Hörsturz, ja Herzinfarkt können die Folge sein. Ruhezeiten und Ruheräume müssen ein Menschenrecht sein!

6. – Wir wollen uns an der gigantischen Leistungsfähigkeit unseres Gehörs ein Leben lang erfreuen. Aber auch wenn das Hörvermögen nachlässt, wollen wir weiter an der Welt teilhaben können. Es braucht bestmögliche Hörgeräte und keine desorientierenden Krücken, die von ungelernten Dilettanten in unsere Ohren gestopft werden.

7. – Die Hyänen des akustischen Raums, Handel und Dienstleistung, bestrahlen unsere Körper mit Schalltapeten, um das Surren der Klimaanlagen, Server, Lüftungen, Lifte und Rolltreppen ihrer minderwertig geplanten und billig zusammengeschusterten Einkaufszentren zu übertünchen und um uns dumm und konsumsüchtig zu machen. Schluss damit!

8. – Tief in die Gehörgänge sind die Stöpsel gestopft. In öffentlichen Bussen, Straßenbahnen, Zügen, U-Bahnen, auf den Straßen, in den Parks und aus den armseligen Lautsprechern von Mobiltelefonen plärren die armseligen, komprimierten und maximierten Kunststoffmusiken. Wir wollen keine durchvibrierten, hyperaktiven kleinen Monster als Kinder!

9. – Das Irrenhaus der Akustik ist bevölkert von Parasiten: Warteschleifen, Jingles, Audiologos, Soundicons, Warn- und Signaltöne, Corporate Sounds, Auftragsfirmensongs, Klingeltöne nisten sich ein in den Gehörgängen. Weg damit! Wir sind Menschen, keine Zielgruppe.

10. – Mehr als alle Lärmschutzwände zusammen könnten eine allgemeine Absenkung der Tempolimits im Straßenverkehr und eine Verkleinerung der Fahrzeuge bewirken. Doch die Autoindustrie hat sich wie eine Hydra mit Abermillionen Köpfen über die Welt gelegt. In die entlegensten Winkel trägt sie den Lärmstrahlungsterror durch permanenten Gesetzesbruch. Sie produziert Gefährte, die viel schneller fahren können als erlaubt. Und der Staat schlottert vor dem Industrieungetüm statt ihm den einen unsterblichen Kopf abzuschlagen.

11. – Wir wollen Bauten und Städte mit einem ausgewogenen Raumklang, mit einem reichen Frequenzspektrum. Wir brauchen Räume, in denen wir uns ins Gespräch vertiefen und konzentriert arbeiten und denken können. Wir wollen Krankenhäuser und Pflegeheime, wo wir in Ruhe und in Würde aus der Welt gehen können. Wir wollen nicht en passant zur Besuchszeit in lauten und überfüllten Zimmern sterben.

Nachrede

Jeder Mensch hat das Recht, gesunde Luft zu atmen. Jeder Mensch hat das Recht auf eine gesunde Umwelt. Und jeder Mensch hat das Recht auf körperliche Souveränität. Der Mensch hat deshalb auch das Recht, durch das, was in seine Ohren eindringt, nicht krank zu werden. Und noch viel mehr: Er hat auch das Recht, bei dem, was in seine Ohren eindringt, demokratisch mitzubestimmen und es selbst mitzugestalten.
Wir veröffentlichen dieses Manifest, damit der akustische Raum endlich politischer Raum wird.
Wir fordern eine neue Politik!
Hören ist Leben.

Peter Androsch


Das Akustische Manifest von Peter Androsch,  wurde veröffentlicht hundert Jahre nach dem Futuristischen Manifest von 1909 und ich hoffe, daß es segensreicher wirke.

Ich veröffentliche es hier auf Einschaltverweigerung.de mit ausdrücklicher Genehmigung.