Erst wenn man sich wehren kann

Da argumentiert man jahrelang gegen den Lärm, die Reizüberflutung und die kulturelle und gesundheitliche Schädlichkeit der Überallbeschallung und nichts geschieht. Alle finden sich ab, stöpseln sich ab, ziehen sich in ihr „privates Hören“ zurück, aber wehe eine App (heute ja die wesentlichste Bestätigung der eigenen Existenz überhaupt) bietet eine Option zur Stummschaltung.

Dann gehen alle auf die Barrikaden und wollen überzeugen wie nützlich der Lärm, die permanente Beschallung etc. sei.
Aber trotzdem gibt es immer mehr Möglichkeiten, abzuschalten!

Darüber gibt es einen interessanten Artikel beim FREITAG vom 10. August, übernommen vom Guardian, sehr lesenswert!

 

Wenn ich mich in dem Büro umblicke, während ich diese Zeilen tippe, hat mindestens die Hälfte meiner Kollegen einen Kopfhörer auf – je jünger sie sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit.
„Diese Entwicklungen“, sagt Tom Rice, Dozent für Schallanthropologie an der Universität von Exeter, „werden unter dem Begriff ‚Privatisierung des Hörraums‘ zusammengefasst. In Klangstudien wird oft darauf hingewiesen, dass wir zwar über Augen-, nicht aber über Ohrlider verfügen. Wir haben also keine Kontrolle darüber, was an unsere Ohren gelangt und was sich in ihnen ansammelt.“

Und dann noch, was ich hier immer schon angemerkt habe:

 

Die meisten Leute stellen die Welt aber nicht stumm, weil sie sie überwältigend oder verwirrend finden. „Sie finden sie einfach langweilig“, sagt Rice. „Häufig denken sie, die Geräusche, denen sie ausgesetzt sind, seien es nicht wert, dass man sie wahrnimmt.“

Also: Unbedingt lesen! Regt an ohne Lärm zu machen! Sie müssen sich diesen Artikel ja nicht von irgendeiner App vorlesen lassen, Sie können ja selbst lesen…

Ich kann es nachfühlen – und auch wieder nicht

Beschweren ist in solch einer Situation notwendig, aber daß der Kritisierte dann zuschlägt, das ist schon wirklich zuviel.

Ich bin mehrfach verbal attakiert worden, wenn ich mich über laute Gespräche oder laute Kopfhörer-Geräusche in Zugabteilen beschwert habe, aber zu einer Schlägerei ist es gottseidank dann doch nicht gekommen.

Eine Meldung vom 9.9.2018

Ein lautstarkes Telefonat in einem ICE-Waggon hat am späten Mittwochabend eine Prügelei nach sich gezogen. Wegen des eher rücksichtslos geführten Gesprächs eines 51-Jährigen aus Mönchengladbach habe ein fünf Jahre älterer Mann aus Viersen nicht einschlafen können und sich beschwert, teilte die Polizei am Donnerstag mit.

Der angesprochene Telefonierer wurde demnach wütend, es entbrannte ein Streit, bis der Mönchengladbacher seinen müden Kritiker würgte und schlug, wie es weiter hieß. Die Bundespolizei erstattete Strafanzeige wegen „Körperverletzung“, der Viersener wurde leicht verletzt.

Ja, wir sind schon ein liebenswertes Völkchen…

Leises Neues Jahr?

Es ist schon erstaunlich, wie das Thema „Lärm“ doch immer wieder in den Vordergrund rückt, aber dabei bleibt es dann auch.

Es gibt immer noch (oder wohl nie) keine wirkungsvollen  Schutzvorschriften vor Lärm, und vor allem:

es gibt keine Einsicht, daß permanente Beschallung kulturell abstumpft und verdummt, daß permanente Beschallung dem Menschen die Selbstreflexion verstellt, daß permanente Beschallung den Menschen entwürdigt und zum funktionierenden Zombie der Konsumgesellschaft macht.

Ich will nicht schon wieder über die Diktatur des Billigen über den selbstbestimmten Audiokonsum schreiben, ich möchte auf einen Aspekt hinweisen, der gerade in einem fundierten Beitrag bei Heise.de erschienen ist: Hintergrundmusik von Roland Benedikter.

Schon die Kapitelüberschriften machen es deutlich:

Kommerzielle Hintergrundmusik füllt alle Gemeinschaftsräume aus. Sie ist die unaufhörliche Injektion unbewusster Traurigkeit, die zum Konsum als Ersatzhandlung führen soll. Man kann sich ihr nicht entziehen – und unterliegt dabei einer ständigen Seelen- und Gehirnwäsche, die nur ein Ziel verwirklicht: ästhetische Einstimmung in Konsumtraurigkeit – was wiederum nach mehr Berieselung verlangt. Wie sich dem Teufelskreis entziehen?

Lesen Sie weiter, der Beitrag ist fundiert und wichtig!

Franz Kafka: Großer Lärm

Großer Lärm

Ich sitze in meinem Zimmer im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung. Alle Türen höre ich schlagen, durch ihren Lärm bleiben mir nur die Schritte der zwischen ihnen Laufenden erspart, noch das Zuklappen der Herdtüre in der Küche höre ich. Der Vater durchbricht die Türen meines Zimmers und zieht im nachschleppenden Schlafrock durch, aus dem Ofen im Nebenzimmer wird die Asche gekratzt, Valli fragt, durch das Vorzimmer Wort für Wort rufend, ob des VVaters Hut schon geputzt ist, ein Zischen, das mir befreundet sein will, erhebt noch das Geschrei einer antwortenden Stimme. Die Wohnungstüre wird aufgeklinkt und lärmt, wie aus katarralischem Hals, öffnet sich dann weiterhin mit dem Singen einer Frauenstimme und schließt sich endlich mit einem dumpfen, männlichen Ruck, der sich am rücksichtslosesten anhört. Der Vater ist weg, jetzt beginnt der zartere, zerstreutere, hoffnungslosere Lärm, von den Stimmen der zwei Kanarienvögel angeführt. Schon früher dachte ich daran, bei den Kanarienvögeln fällt es mir von neuem ein, ob ich nicht die Türe bis zu einer kleinen Spalte öffnen, schlangengleich ins Nebenzimmer kriechen und so auf dem Boden meine Schwestern und ihr Fräulein um Ruhe bitten sollte.

Franz Kafka: Großer Lärm, 1912

Zartbesaitet

Wer unter Lärm leidet, wird nur zu oft als zartbesaitet abgestempelt, und das ist dann abfällig gemeint.

Nun bin ich auf eine Webseite gestoßen, die sich dem Thema „Hochsensibilität“ widmet, die Seite des Vereins  Zart besaitet, dem Verein zur Förderung hochsensibler Menschen:

www.zartbesaitet.net

Die Informationen auf dieser Seite haben mir gutgetan; ich werde nun ersteinmal die vielen Informationen auf dieser Webseite studieren, aber ich habe schon die Erkenntnis gewonnen, daß ich zu der Gruppe sensorisch empfindlicher, jedoch extravertierter Menschen gehöre, die solchermaßen beschrieben werden:

Sensorisch sensible Menschen haben besonders feine Sinneswahrnehmungen: Geräusche, Gerüche, Licht und Farben wirken auf sie besonders stark. Oft haben sie in diesen Bereichen eine Begabung: musisch, künstlerisch, ästhetisch.
ev. Nachteile: oft besonders lärmempfindlich, leicht irritiert, von vielen Sinneseindrücken schneller überlastet.

In dieser Beschreibung finde ich mich wieder: Kunst und Musik sind ein wichtiger Teil meines Lebens, aber ich leide unter Lärm. Bin aber, wie 30% der Betroffenen, recht extravertiert und kontaktfreudig – und davon eben oft auch überfordert.

Schaue ich auf die letzten Jahre zurück, kann ich aber eine bemerkenswerte Verbesserung meines Lebens erkennen:

seit ich in Altersteilzeit bin und in ein Dorf nach Ostvorpommern gezogen, bin ich nicht mehr so stark den Geräuschen der Umwelt ausgeliefert.
Meine Kontakte haben sich intensiviert, sind weniger oberflächlich und ich bin wohl ausgeglichener als früher.
Lärm, Musikberieselung etc. ertrage ich heute leichter, fühle mich zwar immer noch gestört, aber nicht mehr so hilflos und verzweifelt wie früher in solchen Situationen.
Umso gelassener kann ich auch „Leiserstellen“ oder „Radio aus“ bitten ;=)

Mir geht es besser, ich habe das Glück, daß ich meine Lebensweise zum Positiven ändern konnte.